Jahreswechsel mit Ovid

Die nachfolgenden Texte sind entstanden als Beitrag zur Reihe „Wort in den Tag“; gesprochen und gesendet wurden sie Anfang der neunziger Jahre im Süddeutschen Rundfunk, eine ganze Woche hindurch, jeweils sehr früh am Morgen.  Zum Jahreswechsel 2017/18 biete ich sie hier zum Nachlesen an. Sie beschäftigen sich mit dem römischen Dichter Publius Ovidius Naso, im Deutschen kurz Ovid genannt. Und der ist Spezialist für Wechsel und Wandel der Zeiten…

Montag

Wie sich das so schön sagt: „Im Lauf der Zeit…“

„So hört: Es ist nichts auf der Welt, das Bestand hat.
Alles ist fließend, und flüchtig ist jede gestaltete Bildung.
Gleiten doch auch in Dauerbewegung die Zeiten vorüber,
ähnlich dem Flusse. er kann nie rasten, der Fluss, und es rastet
n
ie die bewegliche Stunde. Wie immer die Wellen sich treiben –
jede, die kommt, wird gestoßen und stößt auf die Welle, die vor ihr
fließt: So fliehen die Zeiten zugleich und folgen zugleich sich.
Was nicht gewesen, entsteht; es erneuern sich alle Momente.“

Der römische Dichter Ovid hat diese Verse geschrieben, und zum Wandel der Welt nicht nur diese. Sein Hauptwerk trägt als ganzes den Titel „Verwandlungen“, auf griechisch „Metamorphosen“. Alte Sagen und Märchen hat Ovid hier zusammengetragen; in fünfzehn Büchern und unzähligen Hexametern erzählt er zum Beispiel, wie sich Götter verwandeln, um den Menschen nahe zu sein – auf diese oder jene Weise. Jupiter wählt Wandlungen, um an seine Geliebten heranzukommen: im Goldregen, als Stier oder als Schwan. Und das Mädchen Io verwandelt er kurzerhand in eine Kuh, um sie vor seiner eifersüchtigen Frau Juno zu verbergen. Die durchschaut die Sache natürlich und lässt Io von Argus bewachen, dem Ungeheuer mit den hundert Augen, dem nichts entgeht.

Es verwandeln sich von liebestollen Göttern gejagte Mädchen in Bäume; geschwätzige Menschen werden zu Elstern und Fröschen; untröstliche, verlassene Geliebte lösen sich auf in ihrem Tränenstrom und leben als Quelle weiter.

Doch die Zeit, die verläuft: Wohin läuft sie? Abwärts, klagt Ovid, beständig abwärts. Es war einmal… Es war einmal ein goldenes Zeitalter, dann kam ein silbernes, dann eines aus Bronze – und wir jetzt, wir leben im eisernen:

„Geflohen sind Scham, Wahrheit und Treue.
Dafür erwuchsen die Laster: Betrug und allerlei Ränke,
Hinterlist und Gewalt und die frevle Gier nach Besitztum.
Und der Boden, der früher Gemeingut war wie die Lüfte
und wie das Licht: jetzt ward er mit Grenzen bezeichnet.
Nicht nur Saaten verlangte der Mensch von dem üppigen Boden,
Nahrung, die zu gewähren der schuldete; nein, in der Erde
Tiefen drang man, um Schätze zu graben, Lockmittel des Bösen.
Schon ist das schädliche Eisen erschienen und, schlimmer als Eisen,
Gold. Nun erscheint auch der Krieg: er kämpft ja mit beiden Metallen.
Also lebt man vom Raub. Nicht trauen sich Wirte und Gäste.
Ehrfurcht und Recht sind zertreten. Die Sternenjungfrau Astraea
hat, als letzte der Götter, die blutige Erde verlassen.“

Auf dieser plagt der Mensch sich jetzt ab, voller Sehnsucht nach dem verlorenen goldenen Paradies. Der lydische König Midas, offenbar orientierungslos in diesem Laufe der Zeit, hat das allzu wörtlich genommen. Als ihm Baccchus, der Weingott, einen Wunsch freigibt, wünscht er, es möge alles, was er berührt, zu Gold werden. Und es geschieht: ein Zweig, eine Erdscholle, die Tür seines Palastes, sein Waschwasser – alles wird lauteres Gold. Aber auch alles, was er essen will. Und vor lauter unverdaulichem Gold im Magen droht Midas zu verhungern – wären da nicht gnädige Götter.

Nein, das Goldene Zeitalter, jenes von einst, es war von anderer Qualität. Wie schreibt Ovid: Ohne Strafgesetzbuch, von selber, bewahrte man damals Treue und Anstand.

„Keine Posaunen des Krieges, nicht eherne Hörner, gekrümmte,
gab es, nicht Helme noch Schwert. Des Soldaten bedurften die Völker
nicht. Sie lebten dahin in behaglicher Ruhe.“

Ja, ja – damals.

„Damals brachte die Erde, von niemand bepflügt, das Getreide.
Ungewendet glänzte das Feld von gewichtigen Ähren.
Hier gab’s Ströme von Milch, dort ergossen sich Ströme von Nektar.
Ewiger Frühling herrschte, mit lauem und freundlichem Wehen
fächelten Zephyrlüfte die Blumen, die niemand gesäet.“

Genügsam und sesshaft-ruhig waren die Menschen. Für den Schiffbau zum Beispiel mussten sie keinerlei Bäume fällen:

„Außer den ihren kannten die Sterblichen keine Gestade.“

Tja, so war das, einmal. Warum kann das nicht wieder so sein? Ovid lässt uns allein mit der Frage. Es wandeln sich die Zeiten, von selber, und nicht wir, nicht unser Verhalten wandelt die Zeiten. Nein: Die Zeiten wandeln uns. Ist es unsere Schuld, zum eisernen Geschlecht zu gehören? Und wenn nicht: Wie kommen wir da wieder heraus? Wenn das einer wüsste…

 

Dienstag

Vielleicht liegt ja alles an unserer nüchternen, technischen Sichtweise der Welt. Nehmen wir mal den westgriechischen Strom Acheloos. Früher haben sie Ehrfurcht vor ihm gehabt; im Fluss Acheloos haben sie den Gott Acheloos gesehen, den starken, den nur einer jemals besiegt hat in männlichem Zweikampf: Herkules.

Heute sind sie dem Acheloos mit Baggern, Planierraupen und Tunnelbohrmaschinen auf den Leib gerückt. Europa, das blutjunge Ding, das ein liebesblinder Jupiter seinerzeit importierte, hat die Herrschaft angetreten. Sie spendet reichlich aus ihrem Geldschatz, den manche für das nie leer werdende Füllhorn halten, andere aber für die schlecht getarnte Büchse der Pandora. Und Acheloos muss weichen. Aus dem 240 Kilometer langen, mächtigen Fluss haben die Griechen von heute ein Rinnsal gemacht; sie lassen ihn in Stauseen – welch eine Entwürdigung! – zum stillen Wasser verkommen. Dann pressen sie ihn in Röhren durch das Pindos-Gebirge, damit die thessalischen Bauern ihre Tabak-, Baumwoll- und Getreidefelder nässen können, und noch reicher werden – genau jene Bauern, die in den sechziger Jahren ihre natürlichen Seen ins Meer haben abfließen lassen, weil sie schon damals nicht genug an Anbaufläche bekommen konnten. Und Europa gibt das Geld: zu allem Überfluss.

Acheloos, der Alte, war selbst beständig im Fluss. Mal erschien er als Mensch, mal als Stier, mal als Schlange. Gegen Herkules trat er an, weil beide ein Auge auf Deianeira geworfen hatten, die schöne Tochter des Weingotts. Dem Acheloos aber nützen alle Verwandlungskünste nicht: Herkules siegt – und bricht seinem Stiergegner auch noch ein Horn ab. Für Acheloos ist das schlimm. Doch das Horn, es wird zum echten Füllhorn, damals, und Achelooos gießt es aus über Wiesen und Äcker, zieht Menschen an und sättigt sie mit seinem Überfluss. Ganz von selber hat er das damals gemacht. Keiner hat ihn erpresst.

Einst genoss Theseus seine Gastfreundschaft, jener Held, der auf Kreta den Minotaurus erschlug und – von Ariadne mit dem „roten Faden“ ausgestattet – wohlbehalten aus dem Labyrinth wieder an die frische Luft gelangte. Bei der Rückfahrt übers Meer allerdings zeigte Theseus sich undankbar, setzte Ariadne auf Naxos aus, und erst der Weingott Bacchus und Richard Strauss haben sich – der eine früher, der andere später – des Mädchens erbarmt. Von all dem mag der Flussgott nichts geahnt haben, als er den Theseus einlud in seine Wohnung. Sie war, so schreibt Ovid,

„erbaut aus durchlöchertem Bimsstein und rauem
Tuff; der Boden war feucht von elastischem Moose; die Decke
war kassettiert im Wechsel von Purpurschnecken und Muscheln.“

Und dort erzählt Acheloos aus seiner Jugend – etwa davon, wie die Inseln vor seiner Mündung entstanden:

„Dies sind Nymphen gewesen. Einst schlachteten diese zehn junge
Stiere zum Opfer und luden dazu die ländlichen Götter.
Und sie tanzten die festlichen Reigen. Ich wurde vergessen.
Zornig schwoll ich empor. Meine Flut errreichte den höchsten
Stand wie nur je; mit entsetzlicher Wut und entsetzlichen Wogen
riss ich Wälder von Wäldern und riss von den Feldern die Felder,
und ich schwemmte die Nymphen ins Meer mitsamt ihrem Orte,
die jetzt endlich meiner gedachten. Die Wellen des Meeres
und meine Flut zerteilten das Festland: In Inseln ward es
zerspalten.“

Und Acheloos, der alte Gott, aus dessen Bart unablässig Wasser fließt, erzählt dem Helden auch von seiner ersten, gleichfalls unglücklichen Liebe:

„Eine der Inseln ist mir lieb, dort ferne, so fern,
sie war meine Geliebte; Hippodamas zürnte, ihr Vater,
heftig darüber und stieß von der Klippe die eigene Tochter
jählings hinab ins Verderben. Ich fing sie auf, und ich trug sie,
während sie schwamm, und betete so: ,Du Träger des Dreizacks,
zweiter Beherrscher der Welt, der die schweifenden Wogen erlöst hat,
hilf doch bitte der Frau, die der Grimm des Vaters versenkte!
Gib ihr, Neptun, einen Ort, oder möge sie selber ein Ort sein!‘
Während ich sprach, umschloss ihre schwimmenden Glieder ein neues
Land, eine wuchtige Insel erwuchs durch Verwandlung des Mädchens.“

So weit Acheloos, so weit Ovid. Vielleicht hätte manche Insel, mancher Baum, mancher Stein auch heute noch seine Geschichte zu erzählen. Helden aber und Götter sind tot, unsere Ohren taub vom Lärm der Bagger und der Planierraupen. Wieviel uns da wohl täglich entgeht…

Mittwoch

Wir leben nicht mehr im Goldenen Zeitalter; unsere Zeit ist eine harte, voll von Gewalt und Tragik. Und diese Tragik reicht bis hinein in unsere Liebesbeziehungen. Ovids Geschichte von Echo und Narzissus – hat sie vielleicht noch etwas zu sagen im Zeitalter des Individualismus, der Selbstverliebtheit, der viel beklagten Unfähigkeit zu dauerhafter Bindung?

Echo also, die Nymphe, verliebt sich in den Nymphensohn Narzissus. Ein Traumpaar, möchte man meinen. Doch Narzissus kennt nur sich selbst; angetan von seiner eigenen Schönheit

„beseelte den zärtlichsten Körper die sprödeste Härte.
Niemand vermochte den Schönen zu rühren, kein Jüngling, kein Mädchen.“

Auch die arme Echo nicht, die seit einem furchtbaren Strafgericht der Göttin Juno über sie nichts mehr sagen kann und nichts mehr sagen darf, was aus ihr selbst kommt. Sie darf immer nur die letzten Worte dessen wiedergeben, was die hört. Und so kommt es zur tragischen Begegnung der beiden, als Narzissus über die Fluren streicht und die über beide Ohren verliebte Echo im nach.

„Und so rief er: ,Ist jemand zugegen?‘ – ,Zugegen‘, ruft Echo.
Staunend steht er und schaut nach allen Seiten; dann ruft er
laut und deutlich: ,So komm!‘ – Den Rufenden ruft sie desgleichen.
Um sich blickt er, doch niemand erscheint. ,Warum denn‘, so spricht er,
,meidest du mich?‘ – und gleichviel Worte ertönen ihm wider.
Nicht ablassend, getäuscht durch den Widerhall, ruft er: ,Wir wollen
hier uns vereinigen!‘ Gab’s einen Laut, den Echo so freudig
jemals erwiderte? ,Hier uns vereinigen!‘, rief sie zur Antwort;
und sie trat aus dem Wald, getreu ihren Worten, und wollte
gehn und sogleich mit den Armen den Hals des Ersehnten umschlingen.
Der aber flieht und schreit: ,Fort! Fort mit den Händen und Armen!
Eher würde ich sterben! Du meinst, dir würd ich mich schenken?‘
Jene erwidert nichts als die Worte: Dir würd ich mich schenken…‘

Und Echo vergräbt sich in den Tiefen ihres Waldes, voller Kummer, und taucht nur wieder auf, als sich Narzissus‘ Schicksal erfüllt. In einem Teich hat er sein Spiegelbild gesehen. Er

„sieht die Wangen der Jugend, den Hals, der wie Elfenbein schimmert,
seinen so zierlichen Mund und die Farbe von Schnee und von Rosen.
Alles bewundert er jetzt, weshalb ihn die andern bewundern.
S
ich selbst begehrt er, der Tor, der Liebende ist der Geliebte,
und der Ersehnte der Sehnende, Zunder zugleich und Entflammter.
Oh, wie küsst‘ er so oft – vergeblich – die trügende Quelle,
tauchte die Arme so oft in das Wasser, den Hals zu umschlingen,
den er erschaut, und kann sich doch selbst im Gewässer nicht fassen.“

Und er spricht, die Arme zu den Bäumen

„breitend: ,Hat je ein Mensch so grausam geliebt, o ihr Wälder?
Könnt ihr euch eines erinnern, der je sich so jämmerlich quälte?
Liebe zu mir verbrennt mich, ich schüre die Glut, die ich leide.
Mein ist, was ich ersehne; ich möchte mich schenken und kann nicht.
Oh, wenn ich doch von dem eigenen Leib mich zu trennen vermöchte!
War es denn eines Liebenden Wunsch, was er liebt, möge schwinden?‘ “

Und Narzissus, der den Geliebten so nahe wähnt, nicht durch ein gewaltiges Meer getrennt, nur durch eine Schicht Wasser, eine unbegreiflich-unüberwindliche – dieser Narzisssus geht in seinem Liebeskummer zugrunde. Er weint, seine Tränen kräuseln das Wasser, damit entzieht sich das Bild des Geliebten, und dem Narzissus zerbricht das Herz. Mit seinen Fingernägeln zerreisst er sich die Brust.

„Und fort ist der Leib, der einstmals von Echo so herzlich geliebte.
Als sie es sah, ergriff sie der Schmerz, obwohl sie des Zornes
niemals vergessen. Sooft er unsel‘ge Knabe sein ,Wehe!‘
rief, wiederholte sie widerertönend ihr klingendes ,Wehe!‘
Wenn er die Oberarme sich peitschte mit klagenden Händen,
ließ auch die Nymphe den nämlichen Ton der Schläge vernehmen.
Auch die Worte, die letzten – er schaute noch immer ins Wasser – :
,Ach, du Knabe, vergeblich geliebt!‘ widerhallten am gleichen
Orte; dem Rufe ,Leb wohl!‘ erwiderte Echo.“

Sie konnte nicht anders in ihrem namenlosen Schmerz. Sie konnte nichts geben, sie konnte nicht retten. Aber wäre ein Narzissus jemals vor sich selber zu retten gewesen?

 

Donnerstag

Ovid war nicht nur ein liebevoller Märchenonkel, sondern auch ein sehr bildkräftiger Dichter – und die zuletzt bei Reclam erschienene Übersetzung von Hermann Breitenbach, nach der wir zitieren, steht dem Original kaum nach.

In unserer medienüberfüllten Welt, in der die Suche nach Neuigkeiten gleich welcher Art schon zur Fresssucht geworden ist, spielt das Gerücht eine große Rolle. „Fama“ heißt es bei Ovid; und er hat es zeitlos glänzend beschrieben.

Mitten im Raume der Welt, wo Meer und Erde und Himmel einander berühren und man alles hören kann –

„dort wohnt Fama: auf oberster Warte erkor sie ihr Haus sich,
schuf unzählige Zufahrtswege zur Wohnung und tausend
Luken darin, doch nirgends umschloss sie die Schwellen mit Türen.
Offen bei Tag und bei Nacht, aus tönendem Erze gefertigt,
summt es, das Haus, wirft Stimmen zurück, das Gehörte verdoppelnd.
Nirgend ist Ruhe im Innern, es schweigt kein einziger Winkel.
Aber es herrscht kein Lärm: es raunt und murmelt nur leise,
etwa dem Rauschen der Wellen vergleichbar, das aus der Ferne
tönt, oder wie beim Gewitter, wenn Jupiter finstere Wolken
ließ erkrachen, doch donnert’s zuletzt nur sachte verhallend.
Leichtes Gesindel erfüllt die Hallen: ein Kommen und Gehen!
Tausend Gerüchte durchschwärmen die Räume; es mischen erfund’ne
sich mit den wahren: es schwirrt ein verwirrtes Gemengsel von Worten!
Diese durchdringen die Lüfte, die leeren, mit Schwätzen, und jene
tragen Erzähltes davon: es wächst das Maß des Erlognen.
Irgendein Neuer erfindet noch andres zu dem, was er hörte.
Dort ist verwegener Irrtum zu Hause und gläubiger Leichtsinn,
nichtige Lust wohnt dort und entsetzlich erschütternde Ängste,
jählings erregter Tumult und Geflüster, man weiß nicht von woher.“

Und so weiter. Wo aber geschwätzige Menschen sind, da ist auch ein anderes Laster nicht weit. „Invidia“ heißt es, beziehungsweise: heißt sie. Sie ist die Göttin des Neides. Von wüster,

„schwarzer Feuchtigkeit starrt ihr Haus: in den hintersten Tälern ist ihre
Wohnung versteckt, der Sonne entbehrend und niemals von frischem
Winde durchlüftet, umdüstert und voll von lähmender Kälte.
Drinnen sieht man Invidia Fleisch von Vipern verzehren,
bleich sind Wangen und Mund, die Dämonin ist mager am ganzen
Leib, stets schielt sie querüber, von Rost sind dunkel die Zähne,
grün von Galle die Brust, von Gift unterlaufen die Zunge;
lachen kann sie nur dann, wenn sie Schmerzen bei andern erblickt hat.
Schlaf ist ihr fremd, da wache Gedanken sie quälen, und Tränen
muss überall sie vergießen, wo nichts zum Weinen sie findet.“

Als Strafe schicken die Götter den Neid zu diesem oder jenem Menschen, und mancher zerfleischt sich die Brust wie jener Erysichthon, den die Ackerbaugöttin Ceres – im Griechischen als Demeter besser bekannt – mit unersättlichem Dauerhunger überzieht. Er hatte in provozierender Verachtung der Götter eine heilige Eiche gefällt, und als Rache lässt Ceres die Hungerdämonin kommen.

„Auf dem Gipfel des Kaukasus haust sie, auf steinigem Acker,
spärliche Gräser rupft sie sich hier mit Nägeln und Zähnen.
Struppig sind ihre Haare und hohl die Augen, das Antlitz
blass und grau, wie vermodert; die Lippen, der Schlund verrostet,
hart die Haut – man könnte hindurch bis ins Innerste blicken.“

Die Hungerdämonin also kommt ins Haus des Erysichthon, und sie wird sein Verderben:

„Alles verlangt er sofort, was im Meer, in der Luft, auf der Erde
irgend gedeiht, um an reichlichem Tisch über Hunger zu klagen.
Während des Essens begehrt er nach Essen; nicht will ihm genügen,
ihm, dem einen, woran sich ein Volk, eine Stadt sich ersättigt.
Und er wünscht umso mehr, je mehr in den Leib er hinabschlingt.“

Am Ende trachtet Erysichthon seiner eigenes Tochter nach dem Leben, und da die Götter sie retten, bleibt ihm nur mehr eines: sich selbst aufzufressen, um satt zu werden – voll von Gier, voll von Habsucht, voll von Drang nach immer mehr, immer mehr. Eine Götterstrafe war das damals, ausgesprochen für Frevel am Heiligtum – und anscheinend unheilbar. Damals schon…

 

Samstag

Genauso wie uns Ovid verschweigt, warum es zum Abstieg der Zeiten kam, warum uns das Goldene Zeitalter so fern und das harte, das eiserne so nah ist, so verschweigt er uns auch den Ausweg aus der Malaise. Das kann nur heißen: Es gibt keinen. Selbst Ovids Götter können kein glückliches Leben auf Erden schenken. Vielmehr heben sie, wen sie lieben, aus dieser Welt hinaus, setzen ihn an den Sternenhimmel oder verwandeln ihn in Felsen, Steine, Inseln – in Materie also, die zwar alle Zeiten überdauert, aber doch tot ist, unempfindsam, zu keiner Regung mehr fähig.

Hinter Ovids wundersamen Geschichten steckt immer auch Tragik. Die Liebesgeschichte von Echo und Narzissus haben wir erzählt; dass Habgier zu nichts führt, haben wir beim goldgierigen König Midas gesehen. Das Goldene Zeitalter lässt sich nicht herbeiraffen. Eher lässt es sich als stilles Glück schaffen. Und deshalb sei als Auftakt zum neuen Jahr die Geschichte von Philemon und Baukis erzählt, von ihrer Bescheidenheit, ihrer Gastfreundschaft, ihrer Liebe zueinander.

Jupiter und Merkur, inkognito auf Erden unterwegs, kehren hungrig und müde bei Philemon und Baukis ein, nachdem man sie an tausend anderen Häusern abgewiesen hat.

„Nur eine Hütte empfing sie,
klein, mit Stroh und mit Schilfrohr gedeckt; doch hatten die fromme
Baukis, die Alte, sich hier und der gleichfalls betagte Philemon
einst in den Jahren der Jugend verbunden, sie waren in dieser
Hütte gealtert und machten die Armut sich leicht; denn sie wollten
nie sie verhehlen. Sie trugen sie stets gelassenen Sinnes.
Ob du nach Herren, nach Dienern hier fragst, es bleibt sich das Gleiche:
Zwei sind die ganze Familie, und beide befehlen, gehorchen.

Wie nun die Himmelsbewohner das winzige Häuslein erreichen,
lädt sie der Greis auf bereitetem Sitz zu behaglicher Ruhe.
Baukis, die Emsige, breitet darüber ein raues Gewebe
und zerteilt im Herd die lauwarme Asche; das Feuer
schürt sie, das gestrige, nährt es mit Blättern und trockener Rinde
und entfacht es mit altersgeschwächtem Atem zu Flammen.“

Baukis holt auch noch Kohl aus dem Garten und nimmt lange aufgespartes Räucherfleich vom Balken; Philemon vertreibt den Gästen die Zeit mit Geplauder. Die Alten wollen den beiden Unbekannten sogar die einzige Gans noch opfern – und sehen plötzlich zu ihrem Erstaunen, wie der Weinkrug nicht leer wird, sondern sich immer wieder füllt.

Da begreifen sie, wen sie zu Gast haben – und es erfüllt sich ihr Glück. Die Häuser der ungastlichen Nachbarn versinken im Sumpf, nur ihres bleibt übrig:

„Während sie staunend es sehen und das Unglück der Ihren beklagen,
wandelt das alte Gebäude, das selbst den Besitzern zu eng war,
sich zum Tempel. Die Stützen aus Holz sind zu Säulen geworden,
rotgelb zeigt sich das Dach, einst Stroh: es schimmert von Golde.“

Für ihre Gastlichkeit haben die beiden Alten einen Wunsch frei. Nach kurzer Beratung nennt Philemon ihn: Sie wollen Priester am neuen Tempel sein.

„Und da wir stets in Eintracht die Jahre verlebt, soll dieselbe
Stunde uns beide entraffen! Nie möcht‘ ich das Grab der Gemahlin
jemals erblicken, noch sie ihres Gatten Begräbnis vollziehen!
Sprach’s, und der Wunsch ward ihnen erfüllt: Sie waren des Tempels
Hüter, solange sie lebten. Und später, da standen sie einmal
just vor den heiligen Stufen, von Alter geschwächt, und besprachen,
was hier früher geschehn. Da sah Philemon, wie Baukis
sich umlaubte, und Baukis ersah an Philemon dasselbe.
Und als schon über beider Gesichter der Wipfel emporwuchs,
tauschten sie Worte, solange sie durften: ,Leb wohl, o mein Gatte!‘
riefen sie beide zugleich, und zugleich verbarg und umhüllte
Laubwerk ihr Antlitz. Noch jetzt zeigt dort der Bewohner des Landes
Fremden die Stämme, die einst aus den beiden Körpern entstanden.
Wahrheitsliebende Greise – was hätten sie täuschen mich sollen? –
haben mir solches erzählt.“

Und wir haben es hier weitergegeben, damit in allem Wandel der Zeit auch Altes nicht vergessen wird. Wenn wir schon das Neue nicht kennen – vielleicht hilft uns ja das Alte, es hoffnungsvoll zu bestehen.

 

 

Autor und Copyright: Paul Kreiner
Die Zitate aus Ovids „Metamorphosen“ – alle kursiv gedruckten Texte – stammen aus der zuletzt bei Reclam verlegten Übersetzung von Hermann Breitenbach. Benutzt habe ich die Ausgabe von 1990, die letzte Auflage stammt aus dem Jahr 2001.