„Am besten, man hätte uns alle vertrieben“

Vorbemerkung:

Als Schwerpunkt dieses Blogs habe ich Beiträge zu Italien und dem Vatikan angekündigt. Der eigenen Vergangenheit aber entkomme ich nicht immer, und wenn’s einen aktuellen Anlass gibt, dann schon gleich gar nicht.

Aktuell – das heißt in diesem Falle die vielen Artikel, in denen sich Zeitungen derzeit mit der Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa vor 70 Jahren beschäftigen. Aber nicht nur die Vertreibung hat sehr viel Leid über sehr viele Menschen gebracht. Gar nicht besser erging es damals Deutschen, die NICHT vertrieben wurden, sondern aus verschiedenen Gründen – zum Beispiel – in der Tschechoslowakei festgehalten wurden. Solche Menschen habe ich besucht, als ich – vor meiner Zeit in Rom – Zeitungskorrespondent in Wien war. Vielleicht leben die Hauptdarsteller der daraus entstandenen Reportage gar nicht mehr. Ihre Schicksale bleiben aber wahr, tragisch und denkwürdig.

Und weil ich gerne Artikel schreibe, die den Mainstream, wenn man das so sagen kann, gegen den Strich bürsten, poste ich hier die Reportage von 2002 nochmal. Sie soll mein Beitrag zum aktuellen Vertreibungs-Gedenken sein.

pk

„Am besten, man hätte uns alle vertrieben“

Die deutsche Minderheit in Tschechien – im Schatten des Streits um Benes-Dekrete  und Entschädigung

Von Paul Kreiner, Moravska Trebova/MährischTrübau, 26.03.2002

Die Vertriebenen, die haben das bessere Los gezogen. So sagen Deutsche, die 1945 in der tschechischen Heimat bleiben durften – oder mussten. Noch heute haben sie es schwer, sich Gehör zu verschaffen: Mit ihnen lässt sich kein Wahlkampf machen.

„Vielleicht möcht’ Sie das interessieren.“ Alfred Tihon, geboren 1930, erzählt aus seinem Leben. Er tut es im deutschen Begegnungszentrum von Moravská Trebová, das Mährisch Trübau hieß zu einer Zeit, als es noch die Mitte einer fast rein deutschen Sprachinsel namens Schönhengstgau war. 130.000 Menschen, an die neunzig Prozent der Einwohner, wurden 1945 hier vertrieben. „Mich haben sie gar nicht erst  rausgelassen“, sagt Tihon, während im Saal die deutsche Minderheit ihr Ostern feiert. Die Schar ist klein: 25 alte Leute haben im Museum der mährischen Kleinstadt versammelt, deutlich mehr als sonst beim allwöchentlichen Kaffee und Kuchen. Man wohnt zerstreut; jeder hat im Durchschnitt 80 Kilometer Anfahrt zu bewältigen. Dafür sind diesmal auch die  Enkel und die Urenkel da, die sich im Deutschkurs mühsam an die ferne Sprache ihrer Vorfahren herantasten – und an deren traditionelle Lautfärbung. Sie singen Osterlieder für die Senioren und rühmen den „scheenen Friiehling“.

Alfred Tihon und seine Mutter hatten 1945 den „Aussiedlungsbefehl“ schon in der Tasche, als den Tschechen die „sportliche Gestalt“ des 15jährigen auffiel: „Da haben sie mich zurückgehalten und ins Kaolin-Bergwerk gesteckt. Sie brauchten ja Leute für die Schwerstarbeit.“ Später ging’s als „politisch unzuverlässig“ zur Zwangsarbeit in die Kohlegruben von Ostrau. Enteignet wurden die Tihons genauso wie alle anderen Deutschen: „Uns hat man im Land vertrieben, das Haus weggenommen und uns das eines anderen Deutschen zugeteilt – es war in einem so miserablen Zustand, dass kein anderer es haben wollte.“ Das Haus bekam Tihon 1952 dank der Verbindungen seiner Mutter zurück; aber als er 1992 den kleinen Landbesitz seiner Großeltern einklagte, verweigerte sich der Staat: Tihons deutscher Großvater habe aufgrund der Benes-Dekrete keine tschechoslowakische Staatsbürgerschaft besessen; eine Rückgabe aber sei an die Staatsbürgerschaft gebunden. Tihons Fazit: „So diskriminiert man Deutsche auch heute noch gegenüber den Tschechen.“

Tihons Geschichte ist beispielhaft und nicht beispielhaft zugleich. Tihon blieb etwa von den „Aussiedlungslagern“ verschont, in denen Deutsche zum Teil bis 1955 festgehalten wurden, sofern sie die KZ-artigen Bedingungen überlebten. Und Tihon, auch heute noch ein Trumm von einem Mann, hat in der CSSR seinen Weg gemacht. Andere, wie die feingliedrige Lehrerin Brigitte Zboril am anderen Ende des Trübauer Kaffeetisches, waren als Deutsche zeitlebens der gezielten Erniedrigung ausgesetzt. Zboril konnte 1945 in Mähren bleiben, weil sie einer gemischten deutsch-tschechischen Familie entstammte, die sich sprachlich allerdings und in den Vornamen der Kinder – Karl, Erika, Brigitte – eindeutig auf eine Seite geschlagen hatte. Zboril musste nach dem Krieg erst Tschechisch lernen. „In der Schule hatten wir einen strammen Kommunisten. Der hat zu mir gesagt, ,Gitte, du darfst kein einziges deutsches Wort mehr sagen’. Ich seh ihn heute noch vor mir.“

Später wurde sie selber Lehrerin; doch man ließ sie nur auf den Dörfern unterrichten, in die Stadt durfte sie nie. Und als sie in den siebziger Jahren ein Visum beantragte, um die Taufkirche  ihres Vaters in Wien zu besuchen, packte der zuständige Stasi-Offizier wüst ihre Haare und schlug ihren Kopf auf den Tisch: „Du graue deutsche Ratte, du bekommst kein Visum!“ Die Tschechen als solche, erzählt Brigitte Zboril, seien freundlich zu ihr gewesen, aber bei den Behörden sei sie dauernd angeeckt. „Bei dir war das deswegen schlimmer, weil du alleinstehend warst“, wirft da Zborils Kaffeepartnerin ein: „Ich hab’ einen Tschechen geheiratet, weil die Deutschen so rar waren. Aber du hattest keinen Beschützer.“ Und Brigitte Zboril nickt schweigend.

Alfred Tihon dagegen („Tschihon, ich sprech’ meinen Namen tschechisch aus“) hat sich integriert. Er hat sich durch Fleiß zum Steiger emporgearbeitet: „Weiter ging’s dann nicht mehr.“ Er hat sich bei der Feuerwehr engagiert: „Da hat mich die Politik in Ruhe gelassen.“ Er hat zusammen mit seiner Frau über 27 Jahre hinweg bei der Buchhaltung der Gemeinde geholfen. Er hat ein Wirtshaus geführt. Er hat seinen Sohn rein auf Tschechisch erzogen: „Der war dann acht Jahre lang Bürgermeister.“ Doch erst vor wenigen Jahren, nach dem ersten Besuch bei den vertriebenen Verwandten in Schwaben „hat mein Sohn seine tschechisch-nationale Denkweise geändert“. Tschechisch-nationale Denkweise? „Ja, die haben doch in der Schule die ganze Propaganda eingetrichtert bekommen, dass die Deutschen damals an allem schuld waren und die Vertreibung das einzig Richtige war. Inzwischen hat er Verständnis dafür, was wir alles mitgemacht haben.“ Sollte es zuvor Familienstreit gegeben haben? „Nein, nein. Ich hab’ ihn gelassen. Das musste von selber kommen.“

Irene Kunc schaut vorbei, die Leiterin der Begegnungsstätte und Präsidentin der Landesversammlung, also der deutschen Minderheit in Tschechien. „Sie müssen die Gespräche auf Tschechisch führen“, rät sie augenzwinkernd, „das geht schneller.“ „Das können auch alle!“, ruft eine Frau vom Nachbartisch. Nur die stille Achtzigjährige daneben grummelt: „Das sind Deutsche und reden Tschechisch miteinander. Ich versteh das nicht.“

Irene Kunc sagt, die Deutschen seien nach 1945 unterschiedlich behandelt worden, abhängig von den Tschechen, an die sie im einzelnen geraten seien. Gemeinsames gibt es – neben der diskriminierenden Rückgabepraxis – dennoch: Die Gebliebenen waren zumeist (Berg-)Arbeiter, die dann als Deutsche auch noch mit einem Gehaltsabschlag bestraft wurden: „Deshalb bekommen sie heute auch kleinere Renten.“ Eigenes haben sie kaum: „Sie waren oft nur Mieter im früher eigenen Haus.“ Mancher ist heute so arm, dass er sich kein Fernsehen mit Satellitenantenne für den Empfang deutscher Sender leisten kann. Außerdem, sagt Irene Kunc, fehle durch die Vertreibung und den Schulausschluss der verbliebenen Deutschenr „fünfzehn Jahre Intelligenz“. Sprachpraxis ging 1964 verloren, als jene Deutschen aussiedeln durften, die man 1945 zur Arbeit hierbehalten hatte: „Meine Großeltern zum Beispiel. 1964 waren sie im Rentenalter. In der Familie hatten wir danach keine Gelegenheit mehr, Deutsch zu reden.“ Und die Einschüchterung, welcher die kleinen Leute ausgesetzt waren, wirke sich bis heute aus, sagt Kunc: „Nach der neuesten Volkszählung gibt es 48.000 Deutsche in Tschechien. Aber 60.000 haben einen deutschen Pass. Das passt nicht zusammen. Da haben sich viele nicht getraut, gegenüber den tschechischen Behörden ihre deutsche Abstammung zuzugeben. Nur nichts riskieren!“

Die 22 Begegnungszentren in Tschechien werden vom deutschen Staat finanziert. Sie sind seit der Wende  langsam entstanden und haben den Deutschen erstmals seit 40 Jahren die Zusammenkunft ermöglicht. „Wir kannten uns ja gar nicht“, sagen sie heute: „Wir sind auf der Straße jahrelang aneinander vorbeigelaufen und haben erst nach 1989 erfahren, dass der andere auch Deutscher ist.“ Alfred Tihon erzählt, erst bei einer Kur für ehemalige Schwerstarbeiter sei ihm 1990 aufgefallen, wie viele seiner Kollegen Deutsche waren.

Doch auch die Begegnungszentren erreichen, wie die Landesversammlung mit ihren gut 8000 Mitgliedern, nur einen kleinen Teil der Deutschstämmigen. „Die Jugendlichen“, sagt Irene Kunc, „haben bei einer Arbeitslosenrate von 17 Prozent andere Sorgen.“ Aber immerhin: So wie schon die zweite Generation der Nachkriegsdeutschen nicht mehr sonderlich behindert wurde, so haben auch die Begegnungszentren heute keine Probleme mit tschechischen Mitbürgern oder  Kommunalverwaltungen mehr. Mancher musste allerdings zu drastischen Mitteln der Bewusstseinsbildung greifen – Walter Sitte etwa, der Geschäftsführer  in Mährisch Schönberg/Sumperk. Von dem verlangte der Bürgermeister, er solle den historischen deutschen Ortsnamen vom Schild des Hauses löschen. „Da hab ich ihm  Kanaldeckel aus der Vorkriegszeit gezeigt, auf denen bis heute ,Stadtwerke Mährisch Schönberg’ steht, und hab ihm gesagt, dann soll er die auch alle rausreißen. Passiert ist nichts.“

Walter Sitte und Irene Kunc sagen, auch der jüngste Politikerstreit um die Benes-Dekrete und die Worte, mit denen Tschechiens Ministerpräsident Milos Zeman die Sudetendeutschen „und uns natürlich auch“ als „Hitlers Fünfte Kolonne“ beschimpft hat, hätten das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen nicht aufgewühlt. „Auch tut die Minderheit gut daran, Abstand von der hohen Politik zu halten“, sagt Kunc: „Denen geht’s um Wählerstimmen.“ Abstand halten will man auch  zur Sudetendeutschen Landsmannschaft und deren oft radikalen Forderungen. „Jeder von uns hat Verwandte in Deutschland. Aber wir leben in Tschechien und haben viel Gefühl für Tschechisches. Wir stehen genau dazwischen.“ Die deutsche Minderheit will bei den  Vertriebenenverbänden  auch nicht um Hilfe ansuchen; deren Organisations- und Lobbyvorsprung von vier Jahrzehnten wird teils sogar als kontraproduktiv  betrachtet. „Wir sind tschechische Staatsbürger. Wir müssen das hier regeln“, sagt Walter Sitte, der das Postulat der Sudetendeutschen auf eine „Rückgewinnung der Heimat“ für „unvernünftig und übertrieben“ hält: „Für ein Rückkehrrecht aber bin ich. Nur wird kaum einer zurückkehren wollen.“

Dafür blicken die Gebliebenen in die andere Richtung. Alfred Tihon, der integrierte Bergarbeiter, sagt: „99 Prozent der Vertriebenen waren in einer besseren Situation als wir in der Tschechoslowakei. Im Lebensstandard können wir uns bis heute nicht mit ihnen messen.“ Und Irene Kunc, die Präsidentin der Landesversammlung, bestätigt: dieser Eindruck herrsche unter den Gebliebenen vor. „Sicher, den Vertriebenen ging es in den ersten fünf Jahren schlechter als denen hier bei uns. Aber sie haben in der Freiheit gelebt, konnten studieren, sich in der Demokratie bewegen. Viele von uns sagen, es wäre besser gewesen, man hätte  uns alle vertrieben.“

Autor: Paul Kreiner

Gedruckt in: Stuttgarter Zeitung 2002 u.a.